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Warum psychische Krankheiten in Betrieben kein Tabu sein dürfen – und was Firmen tun können

Depressionen, Angst, Burnout – psychische Störungen sind der zweithäufigste Grund für Krankmeldungen in Deutschland. Seit Jahren steigen die Zahlen betroffener Menschen. 276 Fehltage je 100 Versicherte gingen 2021 auf das Konto psychischer Erkrankungen laut Fehlzeitenanalyse der Krankenkasse DAK – ein neuer Höchststand.

Die Ursachen der stetig steigenden Zahlen sind vielfältig: Stress durch Arbeitsbelastung, Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzten, Angst vor Arbeitsplatzverlust, Alkoholkonsum oder Rücken- und Skeletterkrankungen, die sich auf die Psyche auswirken.

Und auch die Folgen der Pandemie tragen zu einer Verstärkung dieser Probleme bei: Entgrenzung von Arbeit im Homeoffice, Stress durch veränderte Arbeitsumfelder, Kurzarbeit und damit verbundene Gehaltseinbußen. Laut AOK-Fehlzeitenreport 2021 nehmen Schlaf- und Konzentrationsprobleme, Lustlosigkeit, Nervosität oder Niedergeschlagenheit rapide zu - Vorboten einer möglichen psychischen Erkrankung.

Psychische Krankheiten in der Bevölkerung

Betriebe haben oft Berührungsängste bei psychischen Krankheiten

Gleichzeitig ist das Thema "psychische Erkrankung" in vielen Betrieben noch ein Tabu. „Psychischen Problemen hängt ein Stigma an, auch wenn sich hier in den vergangenen Jahren in den Medien viel Positives getan hat. Aber viele Betriebe wie auch Betroffene wissen nicht, wie sie mit einer akuten Erkrankung umgehen können. Sie fühlen sich allein gelassen", so Monika Möhlenkamp, die Leiterin des Zentrums für Bildung und Teilhabe der Initiative zur sozialen Rehabilitation e.V. (FOKUS) in Bremen.

Aus dem Berufsleben auszuscheiden, auch nur temporär, sei für Betroffene häufig der falsche Weg. „Arbeit kann krank, aber auch gesund machen. Teilhabe am Berufsleben ist für Viele eine wichtige Stütze in der Rehabilitation. Das Gesundheitssystem darf sich nicht abschotten gegenüber der Wirtschaft“, weiß die Gesundheitswissenschaftlerin.

Arbeit gebe eben auch Selbstbewusstsein zurück, sorge für Erfüllung und soziale Interaktion, was bei der Genesung helfen könne. Dafür müssen aber das soziale Umfeld und die betrieblichen Rahmenbedingungen stimmen. Viele Betriebe wissen jedoch nicht, wie man diese schafft, um betroffenen Angestellten eine Perspektive zu bieten und sie als Fachkraft nicht zu verlieren.

Unternehmen über den Umgang mit psychischen Krankheiten aufklären

Aus diesem Grund hat FOKUS die Initiative „Unternehmen inklusiv“ ins Leben gerufen. Sie will Betriebe bei der Gesundheitsprävention, aber auch bei der Arbeit mit erkrankten Angestellten unterstützen. Über Fortbildungen, Beratungsgespräche, Fachtage und Seminare mit Führungskräften, der Personalabteilung, dem Betriebsrat und dem betrieblichen Gesundheitsmanagement klärt das Programm auf. „Es geht uns darum, Unsicherheiten abzubauen und so dazu beitragen, dass sich Strukturen in Betrieben ändern“, so Möhlenkamp.

Manchmal können es schon kleine Dinge sein, die Betroffenen helfen:

  • Vielen Depressiven fällt es zum Beispiel schwer, jeden Tag von 8 bis 16 Uhr zu arbeiten. Teilzeitmodelle und flexible Arbeitszeiten können da eine Lösung bieten.
  • Einzel- statt Großraumbüros unterstützen dabei, Lärm und Hektik auszuklammern und reduzieren so Stress und potenzielle Angstsituationen.
  • Manchen kommen auch ungewöhnliche Arbeitsschichten entgegen – zum Beispiel nur nachts zu arbeiten.
  • Lassen sich die psychischen Probleme auf körperliche Ursachen zurückführen, können Gesundheitskurse oder neue Aufgabenfelder innerhalb des Betriebs Alternativen aufzeigen – zum Beispiel vom Außendienst ins Büro zu wechseln.

Betroffene klären auf und schaffen Verständnis

Einen ganz wesentlichen Anteil an der gesundheitlichen Aufklärung haben dabei auch die EX-IN Genesungsbegleiter:innen. Die stammen aus einem besonderem Fortbildungsprogramm des Vereins. Es bildet psychisch Erkrankte darin aus, Anderen dabei zu helfen, in das System zurückzufinden. „Wenn Betroffene selbst als (Peer-)Berater auftreten und in die Betriebe gehen, hat das oft eine ganz neue Wirkung auf die Unternehmen wie auch Angestellten. Viele Erkrankte schöpfen Hoffnung, dass es Aussicht auf Besserung gibt“, berichtet Möhlenkamp.

Auch in der Beratung sind die EX-IN-Fachkräfte dabei. In kleinen Runden können dann auch Unternehmerinnen und Unternehmer Fragen stellen, die sich sonst nicht offen stellen mögen oder die sie mit eigenen Angestellten nicht diskutieren können oder möchten. Oder es können sich die Betroffenen bei einem Wiedereingliederungsgespräch im Unternehmen nach längerer Krankheit von einer EX-IN Fachkraft unterstützen lassen. In der Präventionsarbeit bietet das Team Kurse und Seminare zu Themen der Gesundheitsvorsorge an. Beratung oder Coaching für den Bereich Arbeit und seelische Gesundheit sind weiterhin Teil des Konzepts.

Seit 2018 besuchen die Begleiter:innen Unternehmen. Ein Erfolgsprojekt, wie Möhlenkamp resümiert. Auch in Ausbildungsbetrieben seien sie unterwegs, denn auch unter Jugendlichen nehmen Stress und Überforderung zu.

Arbeitssuchenden und Angestellten ein offenes Ohr bieten

Die Aktivitäten von FOKUS auf der betrieblichen Seite ergänzt das Programm „Arbeit in Fokus“ auf der Arbeitnehmendenseite. Es bietet eine Anlaufstelle für psychisch Erkrankte, die auf der Suche nach Arbeit sind.

Auch hier haben Monika Möhlenkamp und ihr Team ein umfangreiches Angebot aufgebaut:

  • Jobcoaches in Verbindung mit EX-IN-Begleiter:innen beraten und helfen bei der Vermittlung von Jobs.
  • Sie begleiten auch bei Vorstellungsgesprächen und erarbeiten Lösungen mit Vorgesetzten.
  • Offene Sprechstunden bieten einen niedrigschwelligen Zugang, ein „offenes Ohr“
  • Sie beraten individuell und helfen so, die Stärken jeder und jedes Einzelnen zu finden.

„Zu uns kommen sehr unterschiedliche Menschen. Der junge Mann, der Orientierung sucht, weil er seinen Platz im System nicht findet, aber auch Langzeitarbeitslose, welche die Hoffnung verloren haben“, erklärt Möhlenkamp. „Wir zeigen neue Wege auf, das gibt vielen Hoffnung.“ 2021 begleitete der Verein 93 Teilnehmende auf ihrem Weg. Das Modellprojekt wird durch die Senatorin für Wirtschaft, Arbeit und Europa aus Mitteln des Landes und des Europäischen Sozialfonds gefördert. Das Vorhaben soll die Teilhabe von Erwerbslosen mit psychosozialen Gesundheitsproblemen an Arbeit und Beschäftigung in den Stadtteilen des Bremer Westens fördern.

In Bremen greifen viele Rädchen einander

Möhlenkamp und ihr Team sind auf ein gutes Netzwerk angewiesen. Sie pflegen zu Gesundheitseinrichtungen aber auch zu Institutionen rund um Arbeit und Teilhabe, wie Wohlfahrtsorganisationen, Jobcentern oder anderen Initiativen enge Kontakte. „Wir brauchen Netzwerke. In Bremen gibt es viele etablierte Strukturen, auf denen wir aufbauen können.“ In Zukunft möchten sie noch mit weiteren Partnern zusammenarbeiten, wie der Bremer Senatorin für Wirtschaft, Arbeit und Europa.

Für die 54-jährige sei es genau dieses verbindende Element, was ihr in ihrer täglichen Arbeit am meisten Freude bereite. Zu sehen, wie verschiedene Unternehmen und Initiativen wie auch Menschen zusammenkommen, um Betroffenen zu helfen und gemeinsam neue Wege zu gehen. „Für die Zukunft wünsche ich mir einen noch offeneren Umgang mit seelischer Gesundheit, offene Kommunikation und mehr Begegnung rund um das Thema. Für Unternehmen ist dieses Thema noch eine fremde Welt und viele reagieren erst, wenn es bereit zu spät ist. Ich denke, wir profitieren alle davon, wenn wir den Umgang mit psychischen Erkrankungen tiefer in unserer Arbeit verwurzeln.“


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