Frischer Fisch und tiefgekühltes Gemüse: Die rund 40 Lkws der Spedition Brüssel & Maass sorgen jeden Tag für Nachschub in Supermarktregalen, Restaurants und Kantinen. Das Bremerhavener Unternehmen ist ein Vorreiter in Sachen nachhaltiges Wirtschaften und setzt dazu auf ein zukunftsweisendes Konzept: die Gemeinwohl-Bilanz.
„Wir emittieren jedes Jahr 4.000 Tonnen CO2. Damit sind wir eigentlich die falsche Adresse, wenn es um Nachhaltigkeit geht“ – so dachte Ulf Brüssel bis vor einem Jahr noch. Der Speditionskaufmann und Verkehrsfachwirt leitet zusammen mit seinem Bruder Frank das Bremerhavener Familienunternehmen in mittlerweile dritter Generation.
Heute denkt er anders – grundlegend anders. Nicht nur über die CO2-Emissionen, auch über seine Angestellten, seine Kunden, seine Mitbewerber. „Ich hatte da einen Aha-Effekt. Ich war immer schon ein wenig Querkopf und das Konzept der Gemeinwohl-Bilanz sagte mir zu. Man muss etwas unternehmen, wenn sich die Gesellschaft verändern soll.“
Gemeinwohl-Ökonomie: Mit Kennzahlen Gutes tun
Die Wirtschaft verändern, anstatt höher, weiter und schneller auf ökologisches und sozial nachhaltiges Handeln setzen: Das sind Grundpfeiler der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ). Das Konzept stammt von dem österreichischen Politologen Christian Felber. Er erdachte 2010 ein Wirtschaftssystem, das der Gesellschaft und Umwelt dienen soll. Im Mittelpunkt steht das ökologische Gleichgewicht, eine ethische Marktwirtschaft und das „gute Leben für alle“. Vertrauensbildung, Wertschätzung, Kooperation, Solidarität und Teilen sollen auch im unternehmerischen Alltag an erster Stelle stehen.
Ein Baustein des Konzepts ist die Gemeinwohl-Bilanz. Ähnlich wie die Jahresbilanz eines Unternehmens gibt die Gemeinwohl-Bilanz zahlengenau Auskunft über den Stand in Sachen sozial verantwortliches und umweltbewusstes Handeln, gerechte Arbeitsverhältnisse, transparente Prozesse oder Mitentscheidungsmöglichkeiten.
Unternehmen können ihre eigene Gemeinwohl-Bilanz erstellen und sich nach den Gemeinwohlkriterien auditieren lassen. Im Anschluss erhält das Unternehmen sein Testat. Das geschieht nach einem Punktesystem: Je mehr, desto besser. Alle zwei Jahre können Unternehmen diesen Prozess wiederholen und ihren Punktewert verbessern, indem sie ihr Handeln verändern, sei es durch gerechtere Löhne, CO2-Einsparung, Mitbestimmungsrechte, freiwilliges Engagement – vieles ist denkbar.
Neue Generation legt Wert auf gesellschaftlichen Nutzen
Ein prominenter Vertreter, der sich einer solchen Bilanz unterzogen hat, ist etwa der deutsche Outdoorhersteller Vaude. Insgesamt gibt es bis heute rund 400 Unternehmen. „Ein solches Testat kann gegenüber Kunden ein Kaufargument sein, denn es zeigt Verantwortung. Ebenso interessant ist es für die Mitarbeitergewinnung, denn gerade die junge Generation legt immer mehr Wert auf die Sinnhaftigkeit von Arbeit“, zählt Michael Pelzl einige der Vorteile einer Gemeinwohlbilanz auf. Pelzl ist GWÖ-Berater in Bremen, er begleitet Unternehmen bei der Bilanzierung und engagiert sich auch ehrenamtlich für die GWÖ.
„Unsere Vision ist es, dass zum Beispiel private und öffentliche Auftraggeber in der Vergabe Nachhaltigkeitskriterien beachten und so zusätzliche Anreize schaffen“, führt er fort. Bereits heute lasse die Stadt Stuttgart ihre Eigenbetriebe nach GWÖ-Standards prüfen und auch in Bremen gäbe es Überlegungen in diese Richtung.
Aller Anfang ist schwer
Nicht immer ist es leicht, Betriebe von der GWÖ-Idee zu überzeugen – denn schließlich ist es in der heutigen Zeit immer aufwendiger, nachhaltig zu agieren, während Mitbewerber sich unter Umständen nicht an solche Standards halten und damit Kostenvorteile erzielen können. Umso erstaunlicher ist es da, dass aus hart umkämpften Bereichen mit geringen Margen, wie dem Speditionswesen, Unternehmen dabei sind.
Wie etwa Brüssel & Maass aus Bremerhaven: „Wir möchten den Branchenstandard heben, auch wenn wir uns am Anfang schon überlegt haben, ob und wie wir uns das leisten können“, äußert sich Ulf Brüssel über seine Entscheidung. „Aber wir haben immer schon gern für Aufsehen gesorgt.“
Was er damit meint: Bei 90 Angestellten beschäftigt das Unternehmen 20 Auszubildende – eine Quote, wie sie wohl nur wenige Unternehmen in Deutschland haben dürften. Die beiden Geschäftsführer wollen damit aktiv dem Fahrerinnen- und Fahrermangel im Speditionswesen entgegenwirken, haben ein eigenes Schulungszentrum gegründet.
Brüssel ist auch Mitglied im Bremerhavener Verein H2BX, der die Möglichkeiten von Wasserstoffantrieben ausloten will. In den vergangenen Monaten hat sein Team zudem Fahrerinnen und Fahrer geschult, ökologischer im Straßenverkehr zu agieren – aber auch gelernt, auf deren Bedürfnisse und Wünsche besser einzugehen. Das alles sind auch Maßnahmen im Sinne des Gemeinwohls. „Wir sind auf dem richtigen Weg, aber es ist ein langsamer Prozess“, fasst er die Transformation seines Unternehmens zusammen.
Die Welt mit neuen Augen sehen
Insgesamt ein Jahr hat die Erstellung der ersten Kompaktbilanz in Anspruch genommen. Im Zuge der Bilanzierung seien dem Unternehmen viele Aspekte des Gemeinwohl-Ansatzes aufgegangen – ein Aha-Effekt. „Man muss sich viele Fragen über sich selbst stellen, lernt aber auch, sich und seine Umgebung in einem neuen Licht zu sehen“, so Brüssel. Kritische Punkte – wie die hohe CO2-Emission – könnten auch als Chance gesehen werden, sich zu verbessern. „Der Prozess hat uns gezeigt, wo unsere Stärken sind und wie wir künftig mit Beschäftigten, Kunden und Partnern umgehen wollen“, erzählt er weiter.
Eine Orientierung am Gemeinwohl stehe dabei einem Unternehmenswachstum nicht im Wege – aber es gelte, nachhaltig, ökologisch und sozial verträglich zu wachsen.
Begleitet wurde das Unternehmen dabei von zwei GWÖ-Experten, welche bei der Aufstellung der Bilanz unterstützten. Die Bremer Regionalgruppe ist seit 2014 mit rund 10 Personen aktiv, diese informiert ein erweitertes Netzwerk von 150 Personen regelmäßig über Neuerungen.
Corona wirbelt das Geschäft auf
Ein Mitglied der Gruppe ist auch Brüssel & Maass geworden. Hat die Coronavirus-Pandemie die Bestrebungen für das Gemeinwohl beeinträchtigt? „Wie viele andere auch hatten wir Auftragsrückgänge durch Corona. In der Krise zeigt sich, wer ein echter Partner ist, auf wen man sich verlassen kann“, blickt Brüssel auf die vergangenen Monate zurück. „Gleichzeitig stößt das aber auch viele Denkprozesse an – wie man künftig mit wem zusammenarbeiten möchte.“ Auch hier würden GWÖ-Kriterien für ihn wieder relevant.
Ähnliches beobachtet auch Berater Pelzl. „In der Krise haben wir viele Beispiele für Solidarität gesehen, Unternehmen, die sich gegenseitig am Markt unterstützen. Ich bin überzeugt, dass es künftig wichtiger wird, als Unternehmen einen ehrlichen Wertekanon zu leben und für die Politik, Nachteile auszugleichen und nachhaltige Anreize zu setzen.“ Insofern könne er der Krise auch ein wenig positives abgewinnen – biete sie doch die Chance für einen gerechten, sozialen und ökologischen Neuanfang für eine gemeinwohlorientierte Ökonomie.
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